Es soll niemand behaupten, sie würden Tiere quälen. Also müssen die Kutschpferde spätestens nach fünf Stunden abgeschirrt werden, bei einem Tempolimit von zehn Stundenkilometern. So vertieft sind die Politiker im Jahr 1916 in Debatten über artgerechte Ställe und passendes Futter, dass ihnen etwas entgeht: Da draußen, in der wirklichen Welt, hängen längst Autos die Kutschen ab. Weil sie einfach schneller sind. Worüber Politiker debattieren sollten, wäre daher ein flächendeckendes Netz an Tankstellen.
Absurd? Verschieben wir dieses Gedankenspiel um 100 Jahre in die Zukunft, ins Heute.
Vor vier Jahren beschloss die Bundesregierung, Deutschland bis 2018 flächendeckend mit einem Netz zu versorgen, das mindestens 50 Megabit Daten pro Sekunde transportiert. Einen Beschluss des Bundestags gibt es ebenfalls, die Politiker sehen sich in der Pflicht. „Schnelles Internet für jeden“ haben sie versprochen, und die Uhr tickt.
Heute schon ist absehbar, dass im Jahr 2018 die angepeilten 50 Megabit pro Sekunde für ein müdes Gähnen sorgen. Die moderne und demnächst einsatzfähige 5G-Technologie ist weitaus schneller – und wird von Unternehmen landauf, landab gefordert. Sie brauchen Datengeschwindigkeiten im Gigabit-Bereich, wenn die Industrie 4.0 mit ihren vernetzten Maschinen und Geräten ernsthaft anlaufen soll.
Noch trödeln die Daten in Deutschland im Internet: 12,9 Megabit pro Sekunde betrug Ende 2014 der Durchschnitt. Mithilfe von „Vectoring“ lässt sich das Datentempo zwar auch in Kupferleitungen noch über die 50-Megabit-Hürde hieven, aber bald danach ist Schluss. „Das kann in absehbarer Zeit zu einem erheblichen Standortnachteil für die hiesige Wirtschaft werden“, heißt es in der Studie „Der Weg in die Gigabit-Gesellschaft“, die Forscher des IW Consult im Auftrag des Vodafone Instituts erstellt haben.
Zum Jahreswechsel verfügten lediglich 59 Prozent der Unternehmen über Breitbandanschlüsse mit mindestens 50 Megabit pro Sekunde, in ländlichen Regionen waren es sogar nur 29 Prozent. „Viele Firmencluster liegen jenseits der Metropolen, die brauchen dringend ein schnelles Internet“, mahnte IW-Köln-Präsident Michael Hüther auf dem „Digitising Europe“-Summit, wo er die Studie vorstellte.
Weg vom Kupfer
Wer Gigabits sekundenschnell transportieren will, muss vom Kupfer ablassen und sich der Glasfaser zuwenden. Die Südkoreaner haben das begriffen und bereits 70 Prozent aller Anschlüsse an Glasfaserleitungen gelegt. Schweden kommt auf 46 Prozent, Norwegen auf 31 Prozent und Portugal auf 24 Prozent. Und Deutschland? Liegt bei 1,3 Prozent.
Dabei lohnen sich Investitionen in Glasfaseranschlüsse: Steigt ihre Zahl um 1 Prozent, erhöht sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach Berechnungen der IW-Forscher um rund 0,03 Prozent. Für Deutschland hätte dies einen BIP-Zuwachs von etwa 900 Millionen Euro zur Folge. Auch leistungsfähigere Breitbandnetze sorgen für eine wachsende Wirtschaft: Im Durchschnitt der vom IW betrachteten Staaten geht eine Erhöhung der durchschnittlichen Übertragungsgeschwindigkeit um 1 Prozent mit einer Steigerung des BIP von 0,07 Prozent einher.
Für Deutschland entspricht das einem um 2 Milliarden Euro höheren BIP. „Gerade weil Deutschland beim Glasfaserausbau noch am Anfang steht, sind bei derartigen Investitionen besonders große Vorteile zu erwarten“, sagte Hüther.
Als dynamisch wachsende Schlüsseltechnologien macht die Studie smarte Anwendungen im Bereich der Mobilität, im Gesundheitswesen, im Energiesektor, in der Industrie und nicht zuletzt in der Verwaltung und bei Verbrauchern aus. Dabei sei die Netzinfrastruktur der „Schrittmacher“ für die Gigabit-Gesellschaft. Deren digitale Wirtschaft ist eine Netzwerkökonomie, gekennzeichnet von Austausch und Interaktion entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Dafür ist es nötig, Unternehmen wie Haushalte in diesen Austausch einzubinden. Erst so kann sich die Gigabit-Gesellschaft entfalten.
Hin zur Glasfaser
Das Ausbauziel der Bundesregierung im Jahr 2018, die flächendeckenden 50 Megabit, nennt das IW „allenfalls ein Etappenziel: Auf diesem Niveau eine Ruhepause einzulegen, käme im internationalen digitalen Standortwettbewerb einem Rückschritt gleich“. Erst das Angebot an GigabitNetzen befeuere auf der Anwendungsseite eine steigende Nachfrage.
Die Botschaft ist offenbar zumindest im Bundeswirtschaftsministerium angekommen. Das veröffentlichte im März das Positionspapier „Digitale Strategie 2025“, in dem gefordert wird, bis 2025 ein Gigabit-Glasfasernetz aufzubauen. „Die Wirtschaftsleistung in Deutschland könnte bis zum Jahr 2020 um zusätzliche 82 Milliarden Euro steigen, wenn digitale Technologien und die Fähigkeiten zu ihrer Nutzung von deutschen Unternehmen konsequent vorangetrieben werden“, steht dort. „Dem Internet der Dinge wird ein wirtschaftliches Potenzial von bis zu 11 Billionen Dollar zugeschrieben, mit dem größten Anteil im Bereich der industriellen Produktion.“
Allerdings würde der Aufbau des Glasfasernetzes erst einmal Kosten verursachen, von bis zu 100 Milliarden Euro ist die Rede. Das Positionspapier aus dem Wirtschaftsministerium fordert daher einen „Runden Tisch Gigabitnetz“ mit Bund, Ländern und Gemeinden, Unternehmen und Verbänden, „um gemeinsam Strategien zu entwickeln, um Gigabitnetze in Deutschland zu verwirklichen“.
Das ist bestenfalls eine Absichtserklärung und wiegt weniger als ein bereits gegebenes Versprechen. „50 Megabit reichen nicht aus, um die Zukunft zu gewinnen“, sagte Hannes Ametsreiter, CEO von Vodafone Deutschland, auf dem „Digitising Europe“-Summit. Sie reichen gerade mal aus, um ein fast schon überholtes Versprechen zu erfüllen.