Avegen bekämpft die Müttersterblichkeit in Indien mit Hilfe von Technologie

Avegen bekämpft die Müttersterblichkeit in Indien mit Hilfe von Technologie

Indien hat eine der höchsten Müttersterblichkeitsraten der Welt, die Together for Her mit einer neuen datenbasierten Plattform verringern will

Mittels einer Online-Umfrage können Mütter die Krankenhäuser, die sie für die Geburt ausgewählt haben, bereits jetzt anhand von neun WHO-basierten Indikatoren nach ihrer „Quality of Care“ bewerten. Die Bewertungen sind für (werdende) Mütter, die ihrerseits nach einem Krankenhaus suchen, frei zugänglich.

Die Bewertung der Krankenhäuser, die eine deutliche Steigerung der „Quality of Care“ zeigt, erfolgt nach der Registrierung auf der Website. Darüber hinaus bietet Together for Her Schwangeren kostengünstige gebündelte Dienste an, um ihnen zu helfen, die pränatale Gesundheit zu überwachen.

Wir sprachen mit Anne Reijns und Dr. Sumiti Saharan, Direktorinnen von Together for Her, einem Programm, das vom Healthtech-Startup Avegen initiiert wurde, über ihre Herausforderungen, ihre Erkenntnisse und was sie mit ihrem Gesundheitsprogramm für Mütter erreichen wollen.

Wie würdest du dich in drei Worten beschreiben?

Sumiti: Ich bin ein richtiger Daten-Nerd und ein Problemlöser.

Anne: Ich liebe es, komplexe Projekte anzugehen und engagiere mich leidenschaftlich für die Gesundheitsversorgung von Frauen.

Anne Reijns und Sumiti Saharan (Credit: Amin Akhtar/Vodafone Institut)

Wenn wir uns die Gesundheitsversorgung von Müttern und werdenden Müttern in Indien ansehen – wie kam die erste Idee für Together for Her auf und wie habt ihr angefangen, das Programm umzusetzen?

Sumiti: Der Auslöser für den Start von Avegen an sich war eine sehr persönliche Erfahrung unseres CEO, der Arzt ist. Er hatte einen sehr guten Freund, der an Diabetes litt, Raucher war und ein infizierten Raucherbein hatte. Durch schlechtes Gesundheitsmanagement musste man ihm dann sein Bein amputieren.

Das brachte zwei Dinge auf unseren Radar: Menschen brauchen mehr Unterstützung, wenn sie sich in schwierigen Gesundheitszuständen befinden, um die richtigen Entscheidungen treffen zu können und das richtige Verhalten zu zeigen. Das derzeitige Gesundheitssystem hat in Bezug auf diesen Patienten versagt und das wurde zur Basis unserer Arbeit mit Avegen.

Anne: Es geht bei unserer Arbeit darum, vermeidbare gesundheitliche Probleme zu bekämpfen. Nehmen wir zum Beispiel die Gesundheitsversorgung von schwangeren Frauen in Indien: Indien hat die höchste Müttersterblichkeitsrate weltweit und die meisten Todesfälle wären vermeidbar. Entweder fehlt es den Frauen an qualitativ hochwertiger Versorgung, an unzureichender Unterstützung der Patientinnen oder aber die Frauen haben nicht die richtigen Informationen oder den Zugang zur richtigen Behandlung. Basierend auf dieser Ausgangslage haben wir Avegen aufgebaut und auch unser Gesundheitsprogramm für Schwangere Together for Her gestartet.

Eine Idee ist pure Theorie. Was waren die ersten Schritte, um Avegen aufzubauen?

Anne: Wir verfolgen zwei sehr unterschiedliche Ansätze, da wir in zwei völlig verschiedenen Märkten aktiv sind: Indien und Großbritannien. In Großbritannien haben wir begonnen, uns mit der Anbieterseite von Gesundheitsleistungen zu befassen, denn, wenn man ein Produkt an eine Patientin oder einen Patienten anbieten möchte, muss man über die Krankenversicherungen gehen.

Auf der einen Seite wollen wir die Gesundheitsversorgung personalisierter gestalten, damit die Menschen mehr Zugang zu Ärzten haben. Aber es gibt ein akutes Ressourcenproblem, es gibt zu wenig Krankenpflegepersonal und immer mehr Menschen mit Gesundheitsproblemen, da wir grundsätzlich länger leben.

Wir haben daher im ersten Schritt mit dem Aufbau eines Workflow-Management-Tools begonnen, das die Krankenpfleger*innen in einem bestimmten Gesundheitsbereich wirklich unterstützt. Damit soll ihr Arbeitsaufwand reduziert werden und sicher gestellt werden, dass sie eine individualisierte Pflege anbieten können.  So haben wir in Großbritannien im ersten Schritt angefangen und dann unsere Plattform um die Patientenseite ergänzt, denn sobald wir Zugang zum Anbieter hatten, war der Schritt zur Patientin oder zum Patienten einfacher.

Sumiti: In Indien sind wir es tatsächlich genau anders herum angegangen. Um Zugang zur Ärztin oder zum Arzt zu erhalten, muss man zur Patientin oder zum Patienten gelangen. Wir haben mit der „Quality of Care“ Plattform begonnen, die durch einen Zuschuss finanziert wurde. Unser Gedanke war: Wenn wir das Feedback derPatient*innen aufnehmen, können wir die Qualität der Versorgung in den Krankenhäusern verbessern, Zugang zu diesen Krankenhäusern erhalten und sie davon überzeugen, dass sie heutzutage mehr Patientenfokus brauchen. Wir haben mit der Online-Bewertungsplattform begonnen, die wir heute in Kooperation mit 1.000 Krankenhäusern in Indien einsetzen und die bereits 35.000 Bewertungen von Frauen hat.

Was war bisher eure größte Herausforderung?

Anne: Das Gesundheitswesen in Indien hängt dem in Großbritannien in vielen Punkten hinterher. Der Markt ist einfach noch nicht bereit, für Softwarelösungen zu bezahlen. Wie unterstützt man also ein Gesundheitssystem, wenn man keine willigen Geldgeber*innen findet?

Wir haben verschiedene Wege ausprobiert, mit unterschiedlichen Geschäftsmodellen und Kostenträgern im Gesundheitswesen. Herauszufinden, wer in Indien Geldgeber*in ist, war wirklich schwierig. Wir haben uns jetzt für ein Model entschieden, bei dem wir unser Impact Projekt Together for Her aus Europa heraus finanzieren.

Anne Reijns und Sumiti Saharan (Credit: Amin Akhtar/Vodafone Institut)

Gibt es einen Moment oder eine Erfolgstory, die euch immer im Kopf bleiben wird?

Sumiti: Wenn man im Gesundheitswesen arbeitet, gibt es so viele großartige Momente. Das ist eine der wirklich erfreulichen Dinge in der Branche. Ich fange einfach mal mit den Zahlen an. Als wir anfingen, im Bereich Herz-Reha zu arbeiten, hatten wir die Theorie, dass unsere Lösung die Ergebnisse innerhalb der Rehabilitation von Herzpatienten verbessern könne.

Wir sind mit einem renommierten Krankenhaus gestartet und haben uns angesehen, was für Ergebnisse wir erzielen. Wir haben gesehen, dass wir gerade mit unserer Technologie 51% weniger Menschen haben, die nach einem Herzinfarkt für einen zweiten Schlaganfall wiederaufgenommen werden mussten.

Das war so ein Moment, in dem man sich Zahlen ansieht und erkennt, dass es funktioniert. Es handelt sich um eine sehr einfache digitale Implementierung, aber sie funktioniert und schafft wirklich Verbesserung.

Auf einer eher persönlichen Ebene wird dieses Gefühl noch verstärkt, wenn Mütter in Indien auf dich zukommen und um Rat. Wenn gefragt hätte und sie die Informationen nicht bekommen hätte, wäre dies der Zeit ein Risiko für sie und ihr Baby gewesen.

Anne: Für mich gab es zwei große Momente. Die Zahlen sind sehr mächtig, wie Sumiti sagt. Aber die größte Erkenntnis für mich, die ich aus Europa komme und in Indien lebe, war, als ich auf einer Konferenz war. Da stand eine Frau neben mir und sagte: „Ich möchte euch gerne allen sagen, warum eure Arbeit so wichtig ist!“ Und diese Frau erzählte ihre traurige Lebensgeschichte: Sie hatte eines ihrer Kinder wegen schlechter Versorgungsqualität verloren und weil der Arzt falsche Entscheidungen getroffen hatte, da er ihre Krankheitshistorie nicht kannte.

Jemand anderen zu hören, wie er deine Geschichte erzählt, das macht sie sehr real und sehr besonders. Du weißt, weshalb du tust, was du tust.  Diese Momente sind unglaublich wertvoll.

Warum ist es wichtig, Gesundheitslösungen zu entwickeln, die sich rein auf Frauen konzentrieren?

Anne: Das Gesundheitswesen ist traditionell für weiße Männer mittleren Alters konzipiert. Erst seit 1996 sind Frauen ein Pflichtbestandteil klinischer Studien. So gibt es klare Vorgaben oder Anzeichen für einen Herzinfarkt. Tatsächlich bekommen mehr Männer einen Herzinfarkt, aber als Frau haben wir ein höheres Risiko, daran zu sterben.

Sumiti: Die Anzeichen eines Herzinfarkts sind bei Frauen völlig anders als bei Männern. Schwindel ist ein Zeichen für einen Herzinfarkt bei Frauen, aber nicht bei Männern. Es gibt so viele Herzinfarkte, die nicht diagnostiziert werden, weil sich Frauen benommen fühlen und in diesem Moment sagen ihr keine allgemeinbekannten Informationen, dass dies ein Zeichen für einen Herzinfarkt sein könnte. Als Frau hat man, selbst wenn man zum Arzt geht, eine 50% höhere Chance nach einem Herzinfarkt falsch diagnostiziert zu werden.

Anne: Es gibt viele Arten von Krankheiten, die nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die sie brauchen. Nur sehr wenige kümmern sich um die Gesundheit der Mütter oder um das Thema Unfruchtbarkeit, weil es sich um ein Frauenproblem handelt. Und das ist so ärgerlich, dass wir noch für grundlegende Dinge wie unsere eigenen Gesundheitsversorgung kämpfen müssen. Vor allem in Indien oder in Entwicklungsländern, in der ein Mann einen Ultraschal als präventive Pflege betrachtet und seiner Frau daher keinen Ultraschall erlaubt.

Sumiti: Die Menschen vergessen, dass die Geburt und eine Schwangerschaft im Allgemeinen eines der riskantesten Dinge ist, die eine Frau in ihrem Leben durchmacht. Und es ist eine Kondition, die sich über neun Monate Schwangerschaft und anschließende Pflege erstreckt, sie wirkt sich auf das Leben einer Frau aus.

Es geht nicht darum, ein Gesundheitssystem zu schaffen, das ausschließlich für Frauen bestimmt ist. Es geht um die Schaffung eines Gesundheitssystems, das für alle Menschen gleichermaßen von Vorteil ist. Es geht wirklich darum, ein Gesundheitssystem zu schaffen, das einen Menschen ansieht und sagt, dass dieser Mensch diese individuellen Gesundheitsbedürfnisse hat. Und Männer haben schlichtweg andere Bedürfnisse als Frauen.

Wo wird Avegen in fünf Jahren sein?

Anne: In den nächsten zehn Jahren wollen wir das Leben von mehr als 10 Millionen Menschen in Europa und im urbanen Raum in Indien verbessern wollen, um uns so zu einem globalen digitalen Gesundheitsdienstleister zu entwickeln.

Sumiti: Wir wollen komplexe Gesundheitskomplikationen, die derzeit nicht die nötige Unterstützung haben, angehen. Deshalb haben wir uns zunächst für HIV, Herzkrankheiten und Gesundheit von Müttern und schwangeren Frauen entschieden. Und wir untersuchen auch bestimmte Krebsarten, die eine extreme Unterstützung erfordern.

Was sind die nächsten Schritte?

Anne: Wir sind sehr damit beschäftigt, die klinische Wirksamkeit in Indien mit unserer Studie nachzuweisen, das heißt nicht nur die Ergebnisse zu untersuchen, sondern es ist eine richtige klinische Wirksamkeitsstudie einzubinden. So etwas wurde bislang nicht oft in digitalen Bereichen durchgeführt wurde.

Zweitens stärken wir unsere derzeitigen Krankheitsfelder, was sehr spannend ist und wir erweitern unseren Kundenstamm jetzt gerade massiv. Diese Dinge sind die Kernpunkte für 2020 und dann werden wir weitersehen.