Perspektiven der künstlichen Intelligenz in Deutschland
Verliert Deutschland im strategischen Bereich Künstliche Intelligenz den Anschluss? Ein Überblick der wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Bemühungen des Landes.
Deutschland ist nach wie vor die stärkste Volkswirtschaft Europas. Viele Beobachter befürchten jedoch, dass das Land in der andauernden digitalen Revolution von seinen Konkurrenten überholt wird. Der immer wichtiger werdende Bereich der künstlichen Intelligenz bildet da keine Ausnahme.
Als Bundeskanzlerin Angela Merkel Ende Juni bei einer Veranstaltung der WirtschaftsWoche in Berlin auftauchte, war der öffentliche Diskurs des Landes von zwei Themen geprägt: dem unerwarteten und verdienten Ausscheiden der deutschen Fußballmannschaft aus der Fußballweltmeisterschaft und der drohenden Regierungskrise, die von einem der engsten Koalitionspartner Merkels zum Thema Einwanderung ausgelöst worden war. Beide Ereignisse hatten Beobachter und die Öffentlichkeit sichtlich in einen Zustand der Verwirrung und Überraschung versetzt, was das Magazin DER SPIEGEL prompt dazu veranlasste, sich dem Verlust der deutschen Gewissheiten in den Bereichen Sport, Wirtschaft und Politik zu widmen.
Trotz der unbestreitbar düsteren nationalen Stimmung fand Merkel die Zeit, sich mit einem ungewöhnlichen Gesprächspartner zu unterhalten: Sophia, ein humanoider Roboter der Hongkonger Firma Hanson Robotics, die zusammen mit Merkel einer der Hauptgäste des Abends war. Sophia ist eine Art globale Kulturikone. Mehr PR-Stunt als ein echter technologischer Durchbruch, ist es ihr dennoch gelungen, eines der erkennbarsten Symbole des jüngsten KI-Hypes zu werden und einer ansonsten unsichtbaren Revolution, die unseren Alltag schweigend verändert, ein Gesicht zu geben. Während das Ergebnis des Gesprächs zwischen der Personifizierung der deutschen Politik und der Verkörperung von KI an sich unscheinbar und etwas unbeholfen war, war es eine gute Veranschaulichung der aktuellen Rolle von künstlicher Intelligenz in der nationalen Debatte: eine exotische Kuriosität, nützlich für PR-Zwecke und als Schlagwort für die Medien, aber allzu oft ohne Substanz.
Forschung ist nicht das Problem
Diese Beschreibung mag angesichts der bedeutenden deutschen Forschungstradition auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz (s. unten) ungerecht erscheinen, aber sie passt zu dem, was Star-Blogger und Digitalisierungsexperte Sascha Lobo als „digitalen Trumpismus“ bezeichnet: also jener Mischung aus Protektionismus, staatlicher Kontrolle und populistischer Haltung, die Deutschlands Digitalpolitik charakterisiert. Wie die hoffnungslos veraltete digitale Infrastruktur des Landes, für die politische Entscheidungsträger mit jeder Neuwahl regelmäßig Verbesserungen versprechen, ist der aktuelle Stand der KI-Entwicklung in Deutschland für viele Fachjournalisten, Unternehmer und Forscher Anlass zu wachsender Sorge: „Immerhin: Sie hat die Bedeutung des Themas erkannt. Wenn man sich die Erfolgsquote bisheriger staatlicher Digitalprojekte wie Breitbandausbau oder E-Government anschaut, bin ich aber allenfalls vorsichtig optimistisch“, sagt beispielsweise Holger Schmidt, einer der renommiertesten deutschen Beobachter der digitalen Transformation.
Öffentliche Beschwerden gehen selten auf den Zustand der Forschungseinrichtungen des Landes zurück: Die Bilanz Deutschlands auf diesem Gebiet ist recht robust und umfasst nicht nur ein solides Netzwerk von Universitäten und Hochschulen, sondern auch eines der weltweit ältesten Beispiele für Public-Private-Partnership im Bereich der künstlichen Intelligenz, das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI, gegründet 1988 mit Hauptsitz in Kaiserslautern), sowie eine Vielzahl von Stiftungen und Instituten. Insbesondere die renommierte öffentlich geförderte Max-Planck-Gesellschaft und die Fraunhofer-Gesellschaft engagieren sich in eigenen ambitionierten KI-Forschungsprogrammen. Letztere hat beispielsweise mehrere ihrer Institute auf dem Gelände eines hundert Jahre alten Schlosses bei Bonn, Schloss Birlinghoven, angesiedelt, wo inmitten einer idyllischen Landschaft Hunderte von Wissenschaftlern auf dem Gebiet der Datenwissenschaft und des maschinellen Lernens forschen. Ihre Arbeit wird von Prof. Dr. Christian Bauckhage betreut: „Die vergangenen siebzehn Jahre hat sich so gut wie niemand wirklich dafür interessiert, was wir hier machen“, erklärte er kürzlich in der Presse. „Nun stehen sie alle vor der Tür: Autokonzerne, Banken, Versicherungen, Pharmahersteller, zudem rufen täglich Headhunter aus dem Silicon Valley an.“
Einige Stunden Autofahrt Richtung Süden stellt die Max-Planck-Gesellschaft mit ihrem Institut für Intelligente Systeme, welches in einem 2017 mit großem Medienrummel und im Beisein von Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann eingeweihten Hightech-Gebäude seinen Sitz hat, ein weiteres hochrelevantes Forschungszentrum. Das Institut wird von Bernhard Schölkopf geleitet, zweifellos einer der brillantesten KI-Forscher Deutschlands (sowie der meistzitierte deutsche Wissenschaftler auf seinem Gebiet). Schölkopf war einer der lautstärksten Befürworter gemeinsamer Anstrengungen der EU-Nationen, um den überwältigenden Vorsprung der USA und Chinas auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz aufzuholen. „In den vergangenen fünf Jahren hat das Interesse der Wirtschaft daran so stark zugenommen, inklusive exzellenter Angebote für Fachleute, dass in den Unternehmen nun auch viel Grundlagenforschung betrieben wird“, erklärte er kürzlich gegenüber einer deutschen Zeitung. Er und andere europäische Wissenschaftler befürchten, dass Europa auf dem Gebiet der Forschung ins Hintertreffen gerät, während private Unternehmen die besten Köpfe von öffentlichen Einrichtungen abwerben.
Deutschlands Wirtschaft hat zu kämpfen
Interessanterweise sind die Befürchtungen von Schölkopf das ziemliche Gegenteil der Wahrnehmung des Themas durch die nationale Industrie: In einer aktuellen Umfrage unter seinen Mitgliedern hat der Verband Deutscher Ingenieure (VDI) alarmiert festgestellt, dass die Verbreitung von KI unter seinen Mitgliedern überraschend gering und meist auf die Datenanalyse beschränkt sei. KI könne ein entscheidender Motor für das Wirtschaftswachstum werden, betonte VDI-Direktor Ralph Appel bei der Präsentation der Umfragewerte, doch die deutschen Unternehmen, insbesondere der viel gelobte Mittelstand, schienen zögerlich oder unfähig, die neue Technologie anzuwenden. Unternehmensführer behaupten, dass mehr, nicht weniger Integration zwischen Forschung und Wirtschaft notwendig sei. Die Politik scheint ihnen zuzustimmen, wie das Cybervalley-Projekt zeigt, das von der Landesregierung Baden-Württemberg nachdrücklich unterstützt wird. Zwischen der romantischen Universitätsstadt Tübingen und der Landeshauptstadt Stuttgart soll das Cybervalley zur Innovationsschmiede werden. Angesichts des starken Engagements von Unternehmen wie Daimler, Porsche und Bosch ist es nicht undenkbar, dass interessante Technologien in Bereichen wie automatisiertes Fahren aus der Region kommen; aber wird das ausreichen, um die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu sichern?
Die andere große Hoffnung, wenn es um die Digitalisierungsperspektiven Deutschlands geht, ist allseits bekannt: Berlin. Die Hauptstadt hat sich in den letzten zehn Jahren zu einem weltweit relevanten Start-up-Hub entwickelt und ist eine der führenden europäischen Städte in Sachen KI. Dennoch sind die lokalen Vertreter der digitalen Szene eher skeptisch, wenn sie gebeten werden, die bisherigen politischen Bemühungen zu kommentieren: „Wenn man den Worten Glauben schenken darf, hat die Bundesregierung die Zeichen der Zeit verstanden. Wenn man die Taten beurteilt, bekommt man jedoch den Eindruck, dass die Bundesregierung den Knall noch nicht gehört hat. Deutschland wird im Bereich künstliche Intelligenz – sowie in vielen anderen – von China und den USA abgehängt. Wenn sich jetzt nichts tut, wird Deutschland in wenigen Jahren zum Industriemuseum“, sagt Kurosch D. Habibi, Fintech-Sprecher des Bundesverbandes Deutscher Startups.

Fehlende politische Visionen?
Habibi ist nicht der einzige Skeptiker: Im März 2018 haben Unternehmer, Forscher und Unternehmen einen Bundesverband Künstliche Intelligenz (KI-Bundesverband) gegründet, um ihre Interessen zu vertreten und einen „Neun-Punkte-Plan“ zur Förderung der künstlichen Intelligenz in Deutschland vorzulegen. Vielleicht werden ihre Bitten Gehör finden: Die neue Regierung hat ein „Digitales Kabinett“ eingerichtet, um wirksame Politikvorschläge zu entwickeln, und Merkel hat die Absicht ihrer Regierung erklärt, bis zum Herbst dieses Jahres einen umfassenden strategischen Vorschlag zur KI vorzulegen (UPDATE: Während der Finalisierung dieses Textes wurde eine neue Absichtserklärung der Regierung bekannt, in der das Vorhaben verkündet wird, Deutschland zum „weltweit führenden KI-Standort“ auszubauen. Details zur Umsetzung sollen beim diesjährigen Digital-Gipfel der Regierung im Dezember vorgelegt werden; die ersten Reaktionen aus der Wirtschaft und der Wissenschaft sind verhalten). Der prämierte Wissenschaftsjournalist Christian Schwägerl ist trotzdem pessimistisch: „Unsere politische Elite beschäftigt sich mit Migrationshysterie und Themen, die in die Vergangenheit weisen, wie der Bau neuer Straßen und Autobahnen. Bundeskanzlerin Merkel ist die einzige Politikerin, die mir bekannt ist, die das Geschehen in der KI genau beobachtet. Die meisten anderen fügen es einfach ihren Reden hinzu, um ihr Publikum mit wenig Action zu beeindrucken. Aber Merkel hat es in den vergangenen Jahren versäumt, einen wirklich starken Wissenschaftsminister zu ernennen, der unsere Gesellschaft für die Herausforderungen der KI aufwecken würde.“
Gibt es also keine Hoffnung mehr auf eine deutsche KI-Zukunft? Möglicherweise schon, und zwar in Europa. Während Frankreich in den letzten Monaten gewissermaßen die Führung übernommen hat und die Absicht verkündete, den KI-Ambitionen der EU neue Perspektiven zu eröffnen, könnte Deutschland dem Beispiel seines engsten Verbündeten bald folgen: Ein deutsch-französisches Forschungszentrum ist in Planung, und viele Forscher und Journalisten fordern eine engere Zusammenarbeit auf europäischer Ebene. Christian Schwägerls Meinung zu diesem Thema ist klar: „Ohne eine enge Zusammenarbeit mit der EU werden wir nicht in der Lage sein, mit China und den USA in der KI-Technologie zu konkurrieren und einen wirklich europäischen, d.h. humanistischen oder ökologischen Ansatz in diese Technologien einzubringen. Wir werden sehen, dass die KI benutzt wird, um das repressive chinesische politische System und die US-Konsummaschine zu stärken, anstatt sie für höhere gesellschaftliche Ziele einzusetzen. Nur wenn sich Europa zusammentut, werden wir in der Lage sein, der Welt KI-Technologien anzubieten, die anders sind, die Privatsphäre und die Menschenrechte respektieren und uns helfen, die Umwelt zu schützen.“ Sein Kollege Holger Schmidt stimmt zu: „Europa sollte seine Kräfte bündeln, denn die Investitionen der großen Digitalkonzerne in den USA und auch in China sind schon gewaltig. In Europa haben wir diese risikofreudigen Konzerne nicht. Wir müssen also einen anderen Weg gehen.“
Die nahe Zukunft wird zeigen, ob Europa, und damit auch Deutschland, mutig genug ist, diesen Weg zu gehen.
